„ES IST VOLLBRACHT“
(Joh 19,30)
„Es ist vollbracht“ sagt das Johannesevangelium, war das letzte Wort Jesu. Und dann heißt es: „neigte er das Haupt und gab seinen Geist auf“. Das Münchner Neue Testament übersetzt das Wort „Es ist vollbracht“ mit „Es ist vollendet“. Jesus hat im Sterben seine Lebenshingabe und seine Liebeszuwendung zu den Menschen und zu seinem Vater vollendet. Er hat den langen Weg der Liebe und des Leidens für die Menschen im Tod zur letzten ausdrücklichen Liebeserklärung gemacht. Da wir wissen, dass Jesus über den Tod hinaus lebt, verstehen wir die Vollendung seines Lebens als die Vollendung der Liebe zum Leben. Alles Fragmentarische menschlichen Lebens erhält im Tod so Hoffnung auf Vollendung. Jeder Mensch hat Unvollkommenes, Unvollständiges und hinterlässt im Leben immer wieder Fragmentarisches. Er darf aber von der Verheißung erfüllt sein, dass all das, was im Leben unvollkommen und unvollständig ist, einmal in einer letzten Gottesbegegnung seine Vollendung und Ergänzung findet. In jeder Heiligen Messe brechen wir das Brot, um deutlich zu machen, dass es um gebrochenes, um unvollständiges Leben geht, dass es um Teilbereiche der Wirklichkeit geht, die in einer letzten Vollendung bei Gott ihre Erfüllung finden. Der Mensch lebt im Fragment und erlebt Vollendung im Sterben. Das Ganze im Fragment, das ist der Weg der Liebe Gottes zum Menschen in seine letzte und tiefste Brüchigkeit hinein, in die Brüchigkeit des Todes. Daran glauben zu dürfen, dass Leben vollendet wird, heißt letztlich, als österlicher Mensch zu leben. Zu dem zu stehen, was in meinem Leben fragmentarisch ist, was in meinen Werken unvollkommen ist, darauf zu vertrauen, dass es immer ein letztes Vollenden und ein immer noch Mehr gibt, als ich derzeit erleben und erfahren kann.
Frère Roger Schutz hat einmal gesagt: „Lebe das, was du vom Evangelium begriffen hast, und sei es noch so wenig“. Jeder darf mit dem, was er hat, zu seinem Gott kommen und darf darauf vertrauen, dass auch für ihn Leben einmal vollendet wird. Wir kommen ja mit unserem ganzen Leben einmal bei Gott an. In Gott hinein wird der Mensch im Sterben verwandelt.
Es ist gar nicht so leicht, im Leben das Fragmentarische auszuhalten, im Vertrauen zu leben, dass man eigentlich immer hinter den Anforderungen zurückbleibt, das Ganze letztlich nie in seiner großen Dimension ausloten und erfahren kann. Jeder Mensch erfährt aber etwas von dem österlichen Ganzen, von der Vollendung seines Lebens, wenn er zur Kenntnis nimmt, dass selbst in seiner Schwachheit die Kraft zum Leben liegt. Freilich, das kann ich nur erfahren, wenn ich Loslassen einübe, zur Kenntnis nehme, dass ich nicht perfekt sein muss und dass ich auch niemals perfekt und vollendet im irdischen Leben sein kann. Das setzt voraus, dass ich mich unter das Kreuz stelle und zur Kenntnis nehme, dass Schwachheit und Unvollendetsein erst in der letzten Dimension, der Übergabe menschlichen Lebens, zur Geltung kommen wird. Wir leben unser Leben als Fragment und dürfen vertrauen, dass es in Gott vollendet wird.
Jesus von Nazareth stirbt mit den Worten „Es ist vollendet“, und in dieser Vollendung seines Lebens, sagt das Johannes-Evangelium, gibt er der Welt seinen Geist. Er füllt sie gleichsam in der Vollendung seines Lebens mit der Dynamik von Auferstehung, Kraft und Leben über den Tod hinaus.
Der Weg der Passion ist für Johannes zugleich der Weg der Verherrlichung. Das Kreuz ist für ihn nicht bloß ein Marterwerkzeug, sondern zugleich der Thronsitz des Auferstandenen. Vom Kreuz aus wird Christus über die ganze Welt herrschen. Am Kreuz, dort wo unsere Wunden und unsere Nöte sich verdichten, herrscht nun Christus als der Sieger über alles Leid. So fügt die Kirche in der Karfreitagsliturgie an die Passionsgeschichte des Johannes die Großen Fürbitten an, um die ganze Welt gleichsam in diese Vollendung hinein zu führen, die durch die erlösende Liebe Jesu geschenkt wird. Die Gläubigen antworten, indem sie ihre Knie beugen vor dem Gekreuzigten und in der Fürbitte alle Menschen einschließen, damit sie etwas spüren von der Erlösung durch das Kreuz Christi.
Es ist eine starke geistliche Herausforderung, die eigene Unvollkommenheit zu lieben. Die Heilige Theresia sagt einmal „Sich selbst für unvollkommen, die
anderen für vollkommen zu halten: das ist das Glück...Was mich betrifft, so empfinde ich Freude nicht nur, wenn ich für unvollkommen gehalten werde, sondern besonders wenn ich fühle, dass ich es bin“.
Wo jemand seiner eigenen Schwachheit begegnet und ihr nicht mehr gewachsen ist, wo er alles Gott hinlegt, seine eigene Ohnmacht und sein Scheitern, dort wird er merken, dass es so etwas gibt wie „die Gnade des Nullpunkts“. Wer seiner Schwachheit begegnet, wird allen Stolz und jede Selbstverliebtheit ablegen und erfahren, dass das Ja zu den eigenen Grenzen und Schwächen vor Gott reicher macht. Jeder Mensch erfährt zur Stunde der Schwachheit, wie es wirklich um ihn steht und wie sehr er der Hilfe Gottes bedarf. Doch dies macht ihn nicht traurig oder bedrückt, vielmehr wird er es in Dankbarkeit und Demut annehmen.
Die Erkenntnis der eigenen Schwachheit ist kostbar und unersetzbar. „Wer seine Schwachheit und seine ‚Sünden‘ kennt, ist viel größer als einer, der einen Toten auferweckt. Wer eine Stunde lang wirklich über sich selbst weinen kann, ist größer als einer, der die ganze Welt unterrichtet; wer seine eigene Schwachheit kennt, ist größer als einer, der die Engel schaut“, sagt Isaak von Ninive, ein erfahrener geistlicher Vater aus den ersten Jahrhunderten der Kirche. Die Gnade Gottes knüpft ja nicht an unseren Idealen an, sondern an unserer Schwäche. Wer vor Gott erkennt, wie er wirklich ist, erfährt sich „erhoben“ und bekennt mit dem Gesang der Gottesmutter: „Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut, siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter...“ (Lk 1,48).