Die sieben Worte vom Kreuz

 

„Als wir zuletzt noch bei der Mutter waren“ – so sagte mir unlängst jemand – „sagte sie noch“....Und dann kamen zwei, drei Sätze, die die junge Frau in ihrer letzten Begegnung mit ihrer Mutter nie vergessen wird. 
 
Wenn ein Mensch stirbt, dann erzählen wir gerade in der ersten Phase des Schocks und der Trauer, was der Verstorbene zuletzt gemacht hat, was die Verstorbene noch gesagt hat, was ihr wichtig war. Es zählen plötzlich kleine Gesten. Worte werden im letzten Ausatmen zu einer Botschaft für die Welt. 
 
Die Worte Jesu, die ich Ihnen deutend erschließen möchte, sollen wie eine tröstende Kostbarkeit sein. Sie wecken wie die Musik Erinnerungen. Sie mögen Sie in Ihrer augenblicklichen Verfasstheit trösten und Ihnen in Ihrer momentanen Stimmung vertrauende Gewissheit schenken. 
 
Wir werden hineingenommen in das Gespräch Jesu mit Gott, seinem Vater. Wir hören sein vergebendes Wort an seine Umgebung, wir werden mit seinem neuen Programm vertraut gemacht, mit seiner Verheißung, die er seiner Mutter und dem Evangelisten Johannes zugesprochen hat. 

 

 

1. Das erste Wort:

„VATER, VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN“ 
(Lk 23,34)
 
 
Das erste der sieben Worte Jesu am Kreuz ist ein Gebet. Die Situation wird so beschrieben: „Sie kamen zur Schädelhöhe, dort kreuzigten sie ihn und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den anderen links. Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Dort kreuzigten sie ihn, heißt es, und er betete. Jesus von Nazareth spricht in der Stunde seines Sterbens mit seinem Vater. 
 
„Die Leute standen dabei“, heißt es weiter und schauten zu, auch die führenden Männer des Volkes verlachten ihn“, ... „auch die Soldaten verspotteten ihn“. Wenn er der erwählte Messias sei, so steige er herab. Das ist das Umfeld, in dem Jesus von Nazareth betet: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. So betete Jesus, der die Geschichte erzählt hat, dass ein Vater auf seinen Sohn wartet, bis er nach Hause kommt. Er hat erzählt vom Sohn, der sein ganzes Erbe verwirkt hat. Der gegen den Himmel und gegen sich selbst gesündigt hat. Er hat erzählt von einem Vater, der dem Sohn dann den Ring ansteckt und ihm ein Fest bereitet. Der auch für den daheim gebliebenen Sohn da ist und sich um ihn sorgt. Jesus hat diese Geschichte vom gütigen Vater erzählt. Er weiß, dass Gott ein unendlich Liebender ist, dessen Barmherzigkeit und Huld, dessen Erbarmen für die Menschen niemals endet. Gnädig und barmherzig ist der Herr, betete Jesus in seiner jüdischen Tradition, langmütig und reich an Güte, fügte er als Beter hinzu. Jetzt aber, mittendrin im Sterben, betete er: 
 
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. In der letzten Stunde, ja, im letzten Augenblick des Lebens trägt dann immer das, was der Mensch sich im Tiefsten seiner Seele an Gottvertrauen angeeignet hat. Aber so vom Schmerz zerrissen, festgenagelt in der Liebe für die Welt, noch immer beten zu können um Vergebung und Liebe, um Nachsicht für die Feinde, das ist etwas unermesslich Großes. Jesus hatte vom Reich gesprochen, das eine Herrschaft des Erbarmens und der Güte Gottes ist. „Die Schuld des Gottesvolkes, die sich im Tod Jesu verdichtet, wird von Gott dadurch beantwortet, dass er seinem Volk die Erwählung nicht entzieht, sondern ihm erst recht Leben einräumt – obwohl es sein Leben verwirkt hat. Genau das meint die Bibel mit ‚Sühne‘.“ (Gerhard Lohfink: Hat Jesus seinen Tod als Sühnetod verstanden? Impulse für die Pastorale Arbeit Wien 2001). 
 
Am Kreuz zeigt sich die Radikalität der Liebe Gottes zu den Menschen. Gott wartet nicht, bis die Schuldigen kommen und sich versöhnen. Gott geht den Menschen entgegen. Jesus bittet seinen Vater, dass er, wie er im Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt hat, den Menschen entgegengeht und die Welt mit sich versöhnt. Er bittet, dass er wie ein guter Hirte nicht von seiner liebenwürdigen Suche nach den Verlorenen ablässt, wenn die bösen Kräfte im Menschen voll entbrennen. 
 
Das Kreuz zeigt das konsequente Handeln eines grenzenlos liebenden Gottes, der den Menschen selbst bis in die tiefsten Abgründe eines Durch-Kreuzten Lebens hinein nahe sein will. 

 

 

2. Das zweite Wort:

„HEUTE NOCH WIRST DU MIT MIR IM PARADIES SEIN“
(Lk 23,43)
 
 
Jesus bittet nicht nur seinen Vater um Erbarmen. Er schenkt selbst in letzter Bedrängnis liebende Zuwendung. Das zweite Wort Jesu am Kreuz gilt, nach dem Lukasevangelium, dem mit Jesus Gekreuzigten, der zu ihm sagt: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst“ (Lk 23,42). Und die Antwort Jesu ist eine berührende Verheißung: „Amen, ich sage dir. Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Damit verspricht der selbst Sterbende ihm ein neues Leben in unendlichem Glück. Im Lukasevangelium kommt öfter ein „Heute-Wort“ vor. „Heute ist euch der Retter geboren“, heißt es im Weihnachtsevangelium. Später wird Jesus dann sagen „Heute hat sich das Schriftwort erfüllt, dass Blinde wieder sehen und Armen eine gute Nachricht verkündet wird“. Im Haus des Zachäus sagt er „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren“. Und am Kreuz sagt er „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein“. Sein Wort wirkt. Jetzt. Was sich im Leben zeigt, erweist sich auch im Sterben. Auferstehung ist Paradies. Es beginnt eine neue Schöpfung, es beginnt das Leben zwischen Mann und Frau, es beginnt das Leben der Schöpfung Gottes in einem neuen Glanz, in einem neuen Licht. Der Evangelist Johannes schildert seine Osterbegegnungen in einen Garten, um den Menschen daran zu erinnern, dass jetzt eine neue Schöpfung Gottes mit den Menschen einen Anfang nimmt. Jesus ist solidarisch mit den Verzweifelten und das in der äußersten Notsituation des eigenen Sterbens. Er lässt selbst im Sterben den Menschen in seiner Bedrängnis nicht aus dem Auge. Am Kreuz verdichtet sich die Wahrheit seiner Botschaft, indem er der Liebende bleibt für jeden verlorenen Menschen. Jesus zeigt so die Kraft seines Mitleidens, seiner Anteilnahme an fremdem Leid. „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43).

 

3. Das dritte Wort:

„FRAU, SIEHE DEIN SOHN“ und „SIEHE, DEINE MUTTER“
(Joh 19,26)
 
 
Das dritte der sieben Worte Jesu am Kreuz ist ein Gespräch des Gekreuzigten mit Maria, seiner Mutter. Bei ihr stand der Jünger, den er liebte. Da sagte Jesus zu seiner Mutter: „Frau, siehe dein Sohn!“ Dann sagte er zu dem Jünger: „Siehe, deine Mutter!“. „Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“, heißt es. Diese Szene ist oft in unseren Kirchen dargestellt: Der Gekreuzigte in der Mitte, beide Arme weit ausgebreitet und unter ihm stehen auf der einen Seite die Frau und auf der anderen Seite der Mann. Irgendwie finde ich das fortgesetzt dann in jedem Kirchenschiff, wenn es früher die Frauenseite und die Männerseite gab. In meiner Kindheit war es üblich, dass auf der einen Seite in der Kirche nur die Frauen saßen und auf der anderen Seite nur die Männer. Und beim Vorschauen auf den Altar sah ich auf der Frauenseite Maria stehen und auf der Männerseite Johannes. Die Frau und der Mann stehen unter dem Kreuz. 
 
Hilde Domin überschreibt ein Gedicht Ecce Homo 
 
Weniger als die Hoffnung auf ihn
das ist der Mensch
einarmig
immer.
Nur der gekreuzigte 
beide Arme
weit offen
der HIER BIN ICH. 
 
(Gesammelte Gedichte, S 345) 
 
Der Gekreuzigte, sagt die Dichterin, hat „beide Arme weit offen der Hier-bin-ich“. Dieses Wort erinnert an die Antwort, die Gott dem Mose gegeben hat, als er ihn nach seinem Namen fragte. Da antwortete Gott dem Mose: „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘“ (Ex 3,14). Gott ist einer, der um das Elend seines Volkes weiß, heißt es in der altbundlichen Bibel. „Ich kenne ihr Leid“ (Ex 3,7), sagt er dem Mose. 
 
Neben Maria sind noch andere Frauen beim Kreuz. Von den Männern ist nur Johannes geblieben, der Jünger, den Jesus liebte. Eine tiefe Symbolik wird hier sichtbar. Der Mann wird auf die Frau und die Frau auf den Mann verwiesen. Viele Deutungen gibt es zu diesem Jesus-Wort. Am Kreuz werden die Gegensätze miteinander vereint: Gott und Mensch, Mann und Frau, Juden und Heiden. 
 
„Die Männer stehen bei Johannes für die Auseinandersetzungen mit Jesus. Die Frauenszenen – etwa mit der Samariterin oder mit Maria und Martha – sind immer Szenen der Liebe. Wenn Jesus Maria, seine Mutter, dem Lieblingsjünger übergibt, dann wird darin seine Liebe allen Menschen gegenüber offenbar. Der Lieblingsjünger ist Bild für uns alle. Unsere Aufgabe ist es, die Liebe, die in Maria, der Quelle der Liebe, aufscheint, in unser Haus aufzunehmen, ‚in das Eigen‘, in das Innerste, in das Herz, einzulassen“. (Anselm Grün: Jesus – Tür zum Leben. Das Evangelium des Johannes. Stuttgart 2002, S 136).

4. Das vierte Wort:

„MEIN GOTT, MEIN GOTT, WARUM HAST DU MICH VERLASSEN“
(Mk 15,34, Mt 27,48)
 
 
Dieses Wort erinnert an Sätze wie „Ich kann nicht mehr! Ich bin am Ende: am Ende meiner Möglichkeiten, meiner Kraft, meiner Weisheit“. 
 
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ zeigt uns: Auch Jesus war am Ende, auch er konnte nicht mehr. In seiner Verlassenheit – verlassen von den Seinen, verlassen von Gott, seinem Vater – „hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden.“ (Hebr 5,7) . 
 
Auch Jesus hatte Angst, weil er nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte. Doch der Psalm 22 hat ihm weitergeholfen. Ein Psalm, der aus persönlicher Gebetsnot und Gottverlassenheit einen Pfad weisen kann. 
 
Jesus hat seinem Vater geklagt. Seine Not ausgesprochen. Der Psalm, den er anstimmt, ist aber auch Preisung und Leben: Klage, Vertrauen und Lobpreis. In diesem Sterbegebet Jesu liegt eine zerreißende Spannung. 
 
Wie es Tausende vor ihm gemacht und nach ihm getan haben, beendet er sein Gebet mit einem Ruf nach dem Vater. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ob Jesus den ganzen Psalm gebetet hat, wissen wir nicht. Manchmal, so habe ich es erlebt, bringen Christen sterbend nur noch die ersten Worte vom „Vater unser“ über die Lippen. Sie meinen aber das ganze Gebet. In der Begegnung mit Sterbenden habe ich das „Vater unser“ gebetet und gesehen, dass Menschen mit ihrer letzten Kraft die ersten zwei Worte noch mitgebetet haben, dann aber nur noch mit den Augen gedeutet haben. Sie hatten keine Kraft mehr für das ganze Gebet. So war es vielleicht auch mit Jesus, wenn er sagte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. 
 
Wenn wir an die abgründige Erfahrung der Verlassenheit Jesu am Kreuz denken, dann liegt darin der größte Trost, den das Kreuz Jesu uns Menschen bereithält. 
 
Die Frage Jesu ist Erfahrung letzter Gottverlassenheit: „Mein Gott, ich rufe, doch du gibst keine Antwort“; aber der Fragende hört dennoch nicht auf, sich Gott zuzuwenden, er sagt: „Mein Gott!“ Und unmittelbar nach der schrecklichen Erfahrung: „doch du gibst keine Antwort“ geht es über in das: „Aber du bist heilig, du thronst auf dem Lobpreis Israels. Dir haben unsere Väter vertraut, sie haben vertraut, und du hast sie gerettet.“ Der Schrei der Todes-Gott-Verlassenheit ist da, und doch findet die Erinnerung des Sterbenden den mütterlichen Gott der Geborgenheit: „Du bist es, der mich aus dem Schoß meiner Mutter zog, mich barg an der Brust der Mutter. Von Geburt an bin ich geworfen auf dich, vom Mutterleib an bist du mein Gott." 
 
Hat Gott Antwort gegeben? War Gott nahe? Der Psalm sagt:
„Er verbirgt sein Gesicht nicht vor ihm,
er hat auf sein Schreien gehört.
Aufleben soll euer Herz für immer.
Denn der Herr regiert als König;
er herrscht über die Völker.
Seine Heilstat verkündet man dem kommenden Volk,
denn er hat das Werk getan!“
(Ps 22,25-32) 
 
Das Evangelium sagt: Der Ostermorgen ist die Antwort Gottes. Antwort Gottes für alle, wegen dieses Einen! Der Ostermorgen besiegelt für alle Ewigkeit den Namen Gottes. Ich bin da! 
 
Darum darf diese Jesusfrage am Ende stehen! Die Anfrage an mich: Kann ich der Glaubenserfahrung zustimmen und ihren Weg gehen: Preisung in der Not rettet? Kann ich Jesu Gebet am Kreuz mitbeten? 

5. Das fünfte Wort:

„MICH DÜRSTET“ 
(Joh 19,28)
 
 
Jesus hat am Kreuz gesagt: „Mich dürstet“ – und damit seine ganze Sehnsucht nach Leben, nach Wasser des Lebens, nach Quellen des Aufatmens ausgesprochen. Wir kennen solche Sehnsucht der Menschen nach der Quelle, Sehnsucht des Menschen mit seinen trockenen Lippen, Hilfe zu erhalten in der Not der menschlichen Seele und in der Trockenheit körperlichen Leidens. Manchmal können Menschen nicht einmal mehr sagen, dass sie Durst nach Leben haben, weil sie innerlich in ihrer Seele fast vertrocknet sind. 
 
Ich sehe da vor mir einen jungen Mann, den ich am Sonntag Vormittag auf der Intensivstation der Kinderklinik getroffen habe. Er steht am Bett und streichelt sein etwa zweijähriges Kind, das einen Wundverband nach einer Operation trägt. Ich sage zu ihm: „Sie verbringen den Sonntag im Krankenhaus“. Er antwortet: „Das ist nicht der erste und wird nicht der letzte sein“. Dann weint er. Ich bleibe wortlos bei ihm stehen, die Krankenschwestern und der Arzt, die mich begleitet haben, verlassen das Zimmer und ich stehe neben ihm und seinem Kind. Dann sagt er: „Sein Bruder hat Kopftumor gehabt und ist nach sechs Monaten Chemotherapie gestorben. Ein anderer Bruder ist viereinhalb Jahre alt. Mit ihm verbringt meine Frau, die Mutter des Kindes, den Sonntag. Jetzt hat das dritte Kind wieder Kopftumor wie das erste, und ich stehe am Sonntag am Krankenbett“. „Klagen Sie?“ habe ich ihn gefragt, und fragen „Warum?“ „Ich frage nicht mehr „Warum?“, das hilft mir nicht weiter“. 
 
Und ich merke, dass er innerlich fast vertrocknet ist, zu klagen, dass er fast keine Kraft mehr hat, zu weinen. Ich schaue auf das Kind. Es hat uns beobachtet, wie wir am Krankenbett reden, die Augen weit offen, ganz ruhig liegend nach der schweren Operation, ein Spielzeug in der Hand und sich kaum bewegend. Es hat uns zugehört, wie wir Männer über Klage und Sterben und Tod, mehr durch Schweigen als mit Worten gesprochen haben. „Ich denke an Sie“ – sage ich dann noch „und werde den Blick des Kindes und Ihr Dasein nicht vergessen“. 
 
„Mich dürstet“ lese ich am heutigen Abend, wartend auf die Musik, horchend in die Nacht hinein und dabei sehe ich das Kind und seinen Vater. „Mich dürstet“ lesen wir und bitten für alle Notleidenden, die an Krankenbetten stehen oder darin liegen, dass die Quelle des Lebens sprudeln möge. „Ich bin das lebendige Wasser“, hat Jesus von Nazareth gesagt, „Wer aus dieser Quelle trinkt, wird nie mehr Durst haben“. Und in der Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch des Neuen Testamentes sagt der, der auf dem Thron sitzt: „Wer durstig ist, den werde ich umsonst aus der Quelle trinken lassen, aus der das Wasser des Lebens strömt.“ (Offb 21,6). 

 

 

6. Das sechste Wort:

„ES IST VOLLBRACHT“
(Joh 19,30)
 
 
„Es ist vollbracht“ sagt das Johannesevangelium, war das letzte Wort Jesu. Und dann heißt es: „neigte er das Haupt und gab seinen Geist auf“. Das Münchner Neue Testament übersetzt das Wort „Es ist vollbracht“ mit „Es ist vollendet“. Jesus hat im Sterben seine Lebenshingabe und seine Liebeszuwendung zu den Menschen und zu seinem Vater vollendet. Er hat den langen Weg der Liebe und des Leidens für die Menschen im Tod zur letzten ausdrücklichen Liebeserklärung gemacht. Da wir wissen, dass Jesus über den Tod hinaus lebt, verstehen wir die Vollendung seines Lebens als die Vollendung der Liebe zum Leben. Alles Fragmentarische menschlichen Lebens erhält im Tod so Hoffnung auf Vollendung. Jeder Mensch hat Unvollkommenes, Unvollständiges und hinterlässt im Leben immer wieder Fragmentarisches. Er darf aber von der Verheißung erfüllt sein, dass all das, was im Leben unvollkommen und unvollständig ist, einmal in einer letzten Gottesbegegnung seine Vollendung und Ergänzung findet. In jeder Heiligen Messe brechen wir das Brot, um deutlich zu machen, dass es um gebrochenes, um unvollständiges Leben geht, dass es um Teilbereiche der Wirklichkeit geht, die in einer letzten Vollendung bei Gott ihre Erfüllung finden. Der Mensch lebt im Fragment und erlebt Vollendung im Sterben. Das Ganze im Fragment, das ist der Weg der Liebe Gottes zum Menschen in seine letzte und tiefste Brüchigkeit hinein, in die Brüchigkeit des Todes. Daran glauben zu dürfen, dass Leben vollendet wird, heißt letztlich, als österlicher Mensch zu leben. Zu dem zu stehen, was in meinem Leben fragmentarisch ist, was in meinen Werken unvollkommen ist, darauf zu vertrauen, dass es immer ein letztes Vollenden und ein immer noch Mehr gibt, als ich derzeit erleben und erfahren kann. 

Frère Roger Schutz hat einmal gesagt: „Lebe das, was du vom Evangelium begriffen hast, und sei es noch so wenig“. Jeder darf mit dem, was er hat, zu seinem Gott kommen und darf darauf vertrauen, dass auch für ihn Leben einmal vollendet wird. Wir kommen ja mit unserem ganzen Leben einmal bei Gott an. In Gott hinein wird der Mensch im Sterben verwandelt. 
 
Es ist gar nicht so leicht, im Leben das Fragmentarische auszuhalten, im Vertrauen zu leben, dass man eigentlich immer hinter den Anforderungen zurückbleibt, das Ganze letztlich nie in seiner großen Dimension ausloten und erfahren kann. Jeder Mensch erfährt aber etwas von dem österlichen Ganzen, von der Vollendung seines Lebens, wenn er zur Kenntnis nimmt, dass selbst in seiner Schwachheit die Kraft zum Leben liegt. Freilich, das kann ich nur erfahren, wenn ich Loslassen einübe, zur Kenntnis nehme, dass ich nicht perfekt sein muss und dass ich auch niemals perfekt und vollendet im irdischen Leben sein kann. Das setzt voraus, dass ich mich unter das Kreuz stelle und zur Kenntnis nehme, dass Schwachheit und Unvollendetsein erst in der letzten Dimension, der Übergabe menschlichen Lebens, zur Geltung kommen wird. Wir leben unser Leben als Fragment und dürfen vertrauen, dass es in Gott vollendet wird. 
 
Jesus von Nazareth stirbt mit den Worten „Es ist vollendet“, und in dieser Vollendung seines Lebens, sagt das Johannes-Evangelium, gibt er der Welt seinen Geist. Er füllt sie gleichsam in der Vollendung seines Lebens mit der Dynamik von Auferstehung, Kraft und Leben über den Tod hinaus. 
 
Der Weg der Passion ist für Johannes zugleich der Weg der Verherrlichung. Das Kreuz ist für ihn nicht bloß ein Marterwerkzeug, sondern zugleich der Thronsitz des Auferstandenen. Vom Kreuz aus wird Christus über die ganze Welt herrschen. Am Kreuz, dort wo unsere Wunden und unsere Nöte sich verdichten, herrscht nun Christus als der Sieger über alles Leid. So fügt die Kirche in der Karfreitagsliturgie an die Passionsgeschichte des Johannes die Großen Fürbitten an, um die ganze Welt gleichsam in diese Vollendung hinein zu führen, die durch die erlösende Liebe Jesu geschenkt wird. Die Gläubigen antworten, indem sie ihre Knie beugen vor dem Gekreuzigten und in der Fürbitte alle Menschen einschließen, damit sie etwas spüren von der Erlösung durch das Kreuz Christi. 
 
Es ist eine starke geistliche Herausforderung, die eigene Unvollkommenheit zu lieben. Die Heilige Theresia sagt einmal „Sich selbst für unvollkommen, die 
 
anderen für vollkommen zu halten: das ist das Glück...Was mich betrifft, so empfinde ich Freude nicht nur, wenn ich für unvollkommen gehalten werde, sondern besonders wenn ich fühle, dass ich es bin“. 
 
Wo jemand seiner eigenen Schwachheit begegnet und ihr nicht mehr gewachsen ist, wo er alles Gott hinlegt, seine eigene Ohnmacht und sein Scheitern, dort wird er merken, dass es so etwas gibt wie „die Gnade des Nullpunkts“. Wer seiner Schwachheit begegnet, wird allen Stolz und jede Selbstverliebtheit ablegen und erfahren, dass das Ja zu den eigenen Grenzen und Schwächen vor Gott reicher macht. Jeder Mensch erfährt zur Stunde der Schwachheit, wie es wirklich um ihn steht und wie sehr er der Hilfe Gottes bedarf. Doch dies macht ihn nicht traurig oder bedrückt, vielmehr wird er es in Dankbarkeit und Demut annehmen. 
 
Die Erkenntnis der eigenen Schwachheit ist kostbar und unersetzbar. „Wer seine Schwachheit und seine ‚Sünden‘ kennt, ist viel größer als einer, der einen Toten auferweckt. Wer eine Stunde lang wirklich über sich selbst weinen kann, ist größer als einer, der die ganze Welt unterrichtet; wer seine eigene Schwachheit kennt, ist größer als einer, der die Engel schaut“, sagt Isaak von Ninive, ein erfahrener geistlicher Vater aus den ersten Jahrhunderten der Kirche. Die Gnade Gottes knüpft ja nicht an unseren Idealen an, sondern an unserer Schwäche. Wer vor Gott erkennt, wie er wirklich ist, erfährt sich „erhoben“ und bekennt mit dem Gesang der Gottesmutter: „Auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut, siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter...“ (Lk 1,48). 

 

 

7. Das siebte Wort:

„VATER, IN DEINE HÄNDE LEGE ICH MEINEN GEIST“
(Lk 23,46)
 
 
Das ist das letzte Jesus-Wort in der Reihe der sieben Kreuzesworte. Jesus stirbt mit der Zusage der Übergabe seines Lebens an seinen Gott. Er ist gleichsam innerlich befreit von dem Druck, noch etwas klarstellen, noch etwas vollenden, noch etwas erledigen zu müssen. Manchmal denke ich, ob mir das auch gegönnt sein wird im Sterben? Einmal zu sagen: „Alles gehört dir, Gott. Ich gehöre dir. Ich übergebe dir alles, was mein Leben ausgemacht hat. So wie es ist, ist es gut“. Ich wünsche mir, dass ich auch einmal nicht mehr mit Gott ringen muss, er möge mir noch einige Tage schenken, damit ich das oder jenes noch schreiben, damit ich noch mehr Menschen helfen könnte. Jesus zeigt mit dem Wort „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“, dass er einverstanden ist mit den Tagen, die Gott ihm geschenkt hat, mit der Frist, die er ihm gesetzt hat und er weiß, ER, der Vater, wird alles gut machen. Jesus hat nicht einfach nur aufgegeben. Er hat sich gegeben, in andere Hände, in die Hände des Vaters. Ich kenne Menschen, die sich fragen: „Werde ich genügend gute Taten vorweisen können?“. Ich kenne auch eine solche Frage „Werde ich genügend gut sein, wenn Gott mich ruft?“. Manchmal begegne ich Menschen, die Angst haben vor einer letzten Verfehlung ihres Lebens. Ich wünsche mir, dass Gott uns davon befreit, Angst zu haben vor ihm. Deshalb erbitte ich, dass ich auch einmal sagen kann: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“. Ich weiß ja, dass ich mit leeren Händen vor Gott hintreten werde, aber dass Gottes unendliche Liebe meine Leere erfüllen wird. So kann ich in Ruhe mein Leben anschauen vor Gott, es ihm hinhalten. Und ich weiß, er wird alles gut machen. Gott selbst wird mich durch seine Liebe verwandeln. Im Tod werde ich in Gottes Liebe hineinfallen. 
 
Das Wort Jesu „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ ist für mich ein sehr tröstendes Wort; im Blick auf den eigenen Tod Gelassenheit, inneren Frieden, die Gewissheit zu haben, dass Gott mich trägt und er mich einmal in einer letzten Liebe auffangen wird. Dieses Wort befreit mich von den ängstlichen Überlegungen, ob ich für Gott genügend getan habe. Er selbst wird alles für mich tun. 
 
Wenn ich so an mein Sterben denke, dann spüre ich: 
 
Ich brauche keinem Menschen Macht über mich zu geben. Weder die Arbeit, noch das Geld, noch die Umstände haben Macht über mich. Ich bin in Gottes Hand und gehöre Gott. Wenn ich das nicht nur mit dem Kopf, sondern mit meinem Herzen glaube, dann merke ich, dass ich innerlich frei werde. 
 
Das Nachdenken über das Sterben Jesu, das Nachdenken über mein eigenes Sterben macht innerlich frei. Ich brauche mich ja im Blick auf den Tod nicht nach der Meinung anderer zu richten, sondern darf frei sein, das zu leben, was in mir ist und meinem wahren Wesen entspricht. Ich darf frei sein von der Angst, die mich ärgert, weil ich sie gerne loshaben möchte. Ich darf mit meiner Angst in Gottes Hand hineinfallen. Daher darf sie sein, ohne dass sie Macht über mich hat. Sie ist von Gott gehalten und berührt. Ich brauche mich nicht vom Äußeren abhängig zu machen, sondern darf in der Freiheit leben, die Gott allein zu schenken vermag. 
 
Oft werde ich gelebt, anstatt selbst zu leben. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“. Mit diesem Wort, das ich hin und wieder tagsüber spreche, das mir manchmal mitgeht wie eine Melodie, versuche ich jeden Augenblick bewusst zu leben. Ich entdecke das Geheimnis des Lebens und erahne das Leben Gottes, das sich in mir ausdrücken möchte. So kann ich mich auf den Augenblick einlassen, Sorgen loslassen, wahr-nehmen, dass jetzt das Entscheidende geschieht. Im Abendgebet der Kirche heißt es, „Herr, auf dich vertraue ich, in deine Hände lege ich mein Leben“. Dieses Wort ist mir wichtig geworden. Ich sehe meine Hände, was sie tragen können und was nicht. Ich bete dann – oft müde und geschwächt – „Herr, in deine Hände lege ich mein Leben“. Das ist Einübung in Loslassen, ins Schlafen. Der Schlaf ist eine Einübung ins Sterben. Ich wünsche mir, dass ich einmal so sterben kann. „Herr, in deine Hände lege ich mein Leben“. Loslassen und „Vater“ sagen beim Hineinfallen in Gott ist der entscheidendste Augenblick. Die Hände öffnen für eine endgültige Umarmung unseres Gottes. 
 
Bischof Dr A. Schwarz